Textprobe Hölderlin

TEXTAUSZUG aus: »Zeichendeutung« in »Blickpunkte« 1996/I, S. 30–32
© Dr. Werner Csech

____________________________________________________________________

[…] In der zweiten Fassung des Gedichtes »Mnemosyne«1 sagt Friedrich Hölderlin (20.03.1770–07.06.1843):

»Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.«

Das Wort des Dichters darf nicht »deutungslos« bleiben. Es bedarf des deutenden Gedankens, der sich auf die Vielbezüglichkeit des dichterischen Wortes einläßt und sich an demselben – in freilassender Weise – versucht.

»Ein Zeichen sind wir«, sagt Hölderlin2. In vier Worten sagt der Dichter, was der Mensch ist: ein Zeichen. Das Zeichen verweist. Auch das Dasein des Menschen hat Verweisungscharakter. Wir sind unausgesetzt verwiesen auf die Mannigfaltigkeit der Dinge und Wesen. Diese stehen in Bezug zueinander und zu uns; sie sind geordnet. Wir sind hineingestellt in den Gesamtzusammenhang des Seins. Die Offenheit dieses Zusammenhangs stiftet dem Bewußtsein die Welt. Doch wie geschieht dessen aktuelle Welthabe?

Sie geschieht nicht von selbst, sondern in einem mühevollen Vollzug. Sprechend vollzieht der Mensch die gültige Deutung der Welt. Es ist be-zeichnend für den Menschen, daß er Sprache habe.

Im täglichen Umgang mit dem Zeichensystem einer bestimmten Sprache schauen wir unvermerkt durch deren Wortzeichen hindurch auf die Bedeutung. Dabei bleibt die Frage unbeantwortet, ja ungestellt, weshalb wir die Zeichen als Zeichen aufzufassen vermögen. Woher wissen wir um den Hinweischarakter des Zeichenhaften?

In der Dichtung wird der Sprache die Ehre erwiesen. Im Gedicht wird das Wie des Gesagtwerdens selbst zum besprochenen Thema. Damit wird das Zeichen als Zeichen offenbar. Das Zeichen darf hier nicht im Sinne der modernen Semiotik als ein beliebig austauschbares Substitut dessen angesehen werden, wofür es Zeichen ist. Der deutende Gedanke wird nicht nebenher an das dichterische Wortzeichen herangetragen. Zeichen und Bezeichnetes gehören in der von Hölderlin erschlossenen Dimension einander inniger an. In der ursprünglichen Sinntiefe vertritt das Zeichen nicht ersatzhalber die Wirklichkeit, sondern es ist die Weise, wie die Wirklichkeit selbst als solche anwest. Das Zeichen muß seinem Grundgehalt nach als Real-Zeichen verstanden werden. Die Wahrheit des Zeichens ist das Symbolon.

Damit das Zeichen treffend gedeutet werden könne, muß es – aus sich heraus – schon deutend sein. Das Symbolon meint Selbstbedeutung. Denn nur, was sich bedeutet, bedeutet zugleich wesenhaft etwas anderes. Alles Sein, und menschliches Dasein zumal, ist designiert zur Deutung. Ob der deutende Vollzug gelinge, ist ungewiß. Dieser Vollzug ist dem Menschen überantwortet. Er ist seine eigentliche Aufgabe. Wo sie mißlingt, bleiben Mensch und Welt ungedeutet. Zwar ist uns der vollständige Zusammenhang der Welt eröffnet. Doch muß diese Eröffnung eigens ergriffen, angenommen und verwirklicht werden. Ohne dieses Bemühen sind und bleiben wir nach wie vor ein Zeichen – doch deutungslos.

Als pures Zeichen ist der Mensch belanglos. Wenn er kein Bedeutungsträger sein kann, ist er »schmerzlos«. Das Wort ist im Sinne von »insensibilis« zu verstehen. Im »schmerzlosen« (d.h. empfindungslosen) Zustand leidet der Mensch an einem gestörten Wahrnehmungsvermögen des ihm zugedachten Geschickes innerhalb der Welt. Es gebricht am Ein- und Aufgenommensein in die Weite des welthaften Bezuges. Der Zeichencharakter ist herabgestuft zum Rang einer toten, unverstandenen Hieroglyphe. Die Welt ist nichtssagend, weil der Mensch sprachlos ist. Dies führt in die Isolation: Der schmerzlose Mensch ist der Schalheit des Uneigentlichen anheimgefallen. Er ist sich, der Welt und dem Göttlichen fremd geworden.

Die Grundbedeutung der »Fremde« besteht primär nicht in der Unbekanntheit eines geographischen Ortes, obwohl auch dies mit gemeint sein kann. Die Fremde ist vor allem jene Befindlichkeit, in der wir der ordnenden Kraft der Sprache verlustig geworden sind. In der Fremde ist der Zusammenhang der Welt zerrissen. Im Fremden stehend, ist die Entschiedenheit menschlichen Schicksals aus der Sphäre des Göttlichen zwar noch vorhanden, aber unzugänglich.

Ganz vermag sich der Mensch indessen vom welthaften Bezug nicht zu dispensieren. Er bleibt immer umschlossen vom größeren Umfang der Wirklichkeit. Der Mensch ist ein symbolisches Wesen der Sprache, die er nur »fast« verlieren kann. Die Fähigkeit, Dinge und Wesen im Wort zu benennen und ihnen so ihren Ort im umgreifenden Zusammenhang zuzuweisen, bleibt grundsätzlich erhalten.

»Ein Zeichen sind wir, [...]«

Es ist dem Menschen nicht beschieden, sein Schicksal geradlinig zu erfüllen. Er ist ein Zeitwort, das Handlungs- und Geschehensabläufe zu einem währenden Gehalt verdichtet. Im Aneignen der – im doppelten Sinne – aufgegebenen Sprache wird das Zeichen »gelöst«. Was Bruchstück war, wird gefügt zum Bild der Welt. Was in der Fremde heillos verkümmerte, kehrt in das Heil seines Anfangs vollkommener zurück ...

So bleiben die im Horizont der Welt versammelten Bedeutungen als er-innerte für das Bewußtsein präsent. Wo die Geschichte spricht, geschieht die Gegenwart. In der Sprache wird die Welt bedeutend.

Denn darin besteht die zu bewältigende Aufgabe3,

»Daß gepfleget werde
Der feste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet.«

 

Anmerkungen

  1. Zur Entstehungsgeschichte der Hymne siehe: Friedrich Beissner: »Hölderlin. Reden und Aufsätze.« Weimar 1961, S. 211–246.
    Das griechische Wort »Mnemosyne« heißt übersetzt soviel wie »Gedächtnis«, »Erinnerung«. Für den archaischen Griechen, der die Wirklichkeit noch mehr bildhaft-mythisch erlebte, war die »Mnemosyne« eine personifizierte kosmische Kraft. In der griechischen Mythologie begegnet uns »Mnemosyne«, die Göttin des Gedächtnisses, als eine Titanide. Sie ist die Tochter des Uranos und der Gaia. Sie wurde die Mutter der Musen, die nach ihr auch als die »Mnemoiden« benannt wurden. Hesiod (um 7oo v. Chr.) berichtet in seiner »Theogonie«: »Diese gebar Mnemosyne einst dem Vater Kronion / In Pierien, wo sie Eleuthers Hänge betreute.« (Vers 53f.) – Ursprünglich kannte die griechische Mythologie nur drei Musen. Ihre Anzahl wurde auf vier, fünf, sieben und schließlich neun Musen heraufgesetzt. Sie heißen: Melpomene, Kalliope, Thalia, Euterpe, Erato, Polyhymnia, Terpsichore, Klio, Urania.
  2. Der Entwurf des Gedichtes (H1) trägt den Titel: »Das Zeichen«.
  3. Folgende Zeilen aus: »Patmos«. Entworfen wahrscheinlich im Herbst 1801, vollendet im Herbst 1802.

© Dr. Werner Csech