Textprobe Fichte

TEXTAUSZUG aus: »Die Raumlehre Joahnn Gottlieb Fichtes«
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1999,
© Dr. Werner Csech

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DEFINITION DES RAUMS:

»Der reale Raum ist der in Freiheit applizierbare ordinale Übergangstypus eines dynamischen Bewußtseins, das an keinen monolithischen Bewußtseinsinhalt gebunden ist, mit dem dieses den prinzipiell umkehrbaren, aber asymmetrischen, Wechsel von einem (qualitativ besetzbaren) Mannigfaltigkeitselement zu einem mit diesem simultan existierenden (ebenfalls qualitativ besetzbaren) anderen Mannigfaltigkeitselement innerhalb einer indefiniten Grundmenge (»Urraum«) in einer Unzahl von sukzedierenden Fällen regelt, – ohne daß sich inhaltlich identische Übergangssequenzen monoton wiederholen würden.« (S. 40)

 

 

 

 

 

 

VOM SINN DES RAUMS

Seite 369 – 371

Die Philosophie sucht die ersten Gründe dessen, was ist. Somit hat das philosophierende Bewußtsein auch die strukturelle Beschaffenheit des Raums zu begründen. Zwar »woher ihm der Raum komme, und woher die Füllung, weiß es nicht, wohl aber, daß in demselben Etwas ihm werde, daß es aus leerem zu erfülltem sich ihm wandle. Es ist darum des Raumes sich bewußt, als seiner absoluten Receptivität, des äussern Sinnes. Eben so wenig kann es denken, daß die Raumfüllung ihm werde, denn mit ihrem Sein beginnt erst es selbst: sie ist ihm schlechthin; von einem Woher und einer Genesis derselben hat es also gar keine Ahnung. So das natürliche Bewußtsein.« (SW: IX, 97) Doch ist das Ich dieser Naivität seines bloß natürlichen Bewußtseinszustandes nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das Ich vermag nicht den Raum aufzuheben, weil dieser ein Produkt seiner wesensnotwendigen Handlungsformen ist. Aber es vermag sich in freier Geistesarbeit über den Bewußtseinszustand der vernunftlosen Rezeptivität zu erheben. »Reißt es sich los von dieser Gebundenheit und kommt es zur Besinnung, so fragt es allerdings nach einem Woher?« (l.c.) Anhand der bisherigen Überlegungen sind wir nun in der Lage, dieses Problem, das wir zu Beginn der Abhandlung lediglich in heuristischer Weise formuliert haben, zu präzisieren: Es kann sich in der Tat nicht darum handeln, aus dem in jeder Hinsicht Unräumlichen den Raum hervorzuzaubern. Ein solcher Übergang ist schlechthin unmöglich. Das schon bekannte Dilemma besteht darin: Entweder man setzt zur Ableitung des Raums etwas voraus, das bereits räumlicher Natur ist (d.h. man begeht eine petitio principii) oder man fällt eben in einen Abyssus, indem man den Raum in genetische Beziehung zu etwas setzen will, das keine gemeinsamen Merkmale mit diesem aufweist bzw. sogar als die logische Negation von Räumlichkeit angesprochen werden muß. Wie soll man also die Herkunft des Raums erklären, wenn man ihn weder als uneingestandene implizite Voraussetzung beansprucht, noch einen Übergang willkürlich postuliert, der der Vernunft ewig uneinsichtig bleiben muß? Um das Problem zu lösen, muß angesetzt werden, daß der Raum mit seinem Deduktionsgrund eine Schnittmenge von Eigenschaften aufweist. Die Rede von einer »Schnittmenge« ist freilich eine abstrakte Ausdrucksweise.

Die wirkliche Erzeugung des Raums ist gegeben durch eine Metamorphose von Funktionen. Die Forderung nach Funktionalität transzendentaler Deduktionen bedeutet, daß sie alle jene Bewußtseinsleistungen in ihrem vollständigen Zusammenhang aufweisen müssen, welche konstitutiv eingehen in die Struktur eines empirisch abgesicherten Phänomens. Daher muß die Frage vielmehr von der Art sein: Wie bekundet sich ein unwillkürlich (spontan) auftauchender Inhalt des natürlichen empirischen Bewußtseins in und als entspringend aus den Konstitutionsleistungen des Geistes, sofern die meditative Selbstinnewerdung erreicht wird? Wo diese gelingt, wird man einer gewissen Anzahl notwendiger und untereinander verschränkter Grundbestimmungen ansichtig, ohne welche, um auf unseren Untersuchungsgegenstand einzugehen, der Raum nicht Raum wäre, – die aber doch als einzelne nicht nur für den Raum typisch und gültig sind, da sonst das betreffende Phänomen isoliert vom Weltzusammenhang und somit das Bewußtsein disparat wäre*. Erfordert ist also keine Pauschalerklärung, die »den« Raum als monolithische Größe von dem schlechthin Anderen seiner herleiten könnte. Eine solche Deszendenz ist ein logischer Widerspruch in sich, ist, mit Kant zu reden, ein nihil negativum (cf. B 348), weshalb ihr Nachweis nimmermehr gelingen kann. Die Erklärung besteht vielmehr in der Rückführung von Eigenschaften des Phänomens auf spezifische, systematisch zusammenhängende Handlungen des Geistes. Zu den wichtigsten Eigenschaften des Raums zählen die Pluripotentialität, die Offenheit und die ordinative Funktion. Die Herkunft einer solchen Eigenschaftskombination muß innerlich nachvollzogen werden. Das dabei aufleuchtende Geschehen der Metamorphose ist verantwortlich dafür, daß sich aus dem Gesamt aller möglichen Funktionen eine gewisse Anzahl derselben zu einem organischen Gebilde zusammenschließt: – dem Raum. Die Funktionen sind Funktionen des Geistes. Daher kommt es, daß es sich um einen echten organischen Zusammenschluß handelt, nicht nur um eine bloße Kombinatorik toter Eigenschaften. Die Grundeigenschaften des Raums sind eben funktionale Handlungen innerhalb des Gesamtrepertoires des tätigen Geistes und können daher nicht wie Bauklötzer kombiniert werden. Jede Handlungsart, die den Raum mitbestimmt, ist gekennzeichnet durch eine ihr eigene typische »Kraft«. Wie die strukturellen Eigenschaften des Raums in diesen waltenden Bewußtseinskräften urständen, sollte ein Stück weit aufgezeigt werden.

Wenn aber die Darstellung gelungen ist – und sei es auch nur in geraffter systematischer Form –, wie die Haupteigenschaften des Raums in evidenten Geisteshandlungen fundieren, gelangt man von der funktionalen Ebene zur Sinnebene: Der Geist schafft um sich, für sich und in sich Räumlichkeit, um frei zu sein. Die Freiheit des wirkenden Geistes ist der höchste Sinn des Raums.
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* Das Bewußtsein kann nicht unzusammenhängend sein. Es ist aber nicht der Zusammenhang, da es – diesen übergreifend – denselben erst stiftet. Auch dem Gesamtzusammenhang verdankt sich das Bewußtsein in keiner Weise, sondern dieser jenem. Der Gesamtzusammenhang nicht weniger als die Teilzusammenhänge sind nur für das Bewußtsein, in das sie eingehen und darin sie aufgehen. Das ist der Grund, warum Kants Kategoriendeduktion aus der Synthesisfunktion des Verstandes letztlich doch ohne Fundament dasteht.